
Prof. Dr. Stefania Centrone
Professur für Philosophie und Wissenschaftstheorie
Department of Science, Technology and Society
Facts:
- Lieblingsbuch: Pinocchio
- wichtiger Gegenstand: Audible
- seit April 2023 an der TUM
Interview
1. Wer sind Sie und was machen Sie an der SOT?
Ich bin eine in Deutschland tätige italienische Philosophin.
An der SOT habe ich den Lehrstuhl für Philosophie und Wissenschaftstheorie inne.
Historisch handelt es sich um eine sehr wichtige Stelle. Sie wurde von 1969 bis 1996 von dem schwedischen Philosophen Jan Berg besetzt, der maßgeblich dazu beigetragen hat, das Werk des böhmischen Mathematikers und Philosophen Bernard Bolzano zugänglich zu machen.
Den Lehrstuhl hatte von 2008 bis 2016 der deutsche Mathematiker und Philosoph Klaus Mainzer, dessen Forschung sich auf die Grundlagen und Herausforderungen konzentriert, die mit konstruktiver Mathematik, der Selbstorganisation komplexer Systeme in Natur und Gesellschaft und der Entstehung künstlicher Intelligenz verbunden sind.
Mit beiden Vorgängern ist meine Forschung eng verbunden. Meine Habilitationsschrift trägt den Titel „Studien zu Bolzano“. Hier befasse ich mich mit verschiedenen Aspekten von Bernard Bolzanos philosophischer Logik und widme mich dabei sowohl Bolzanos Ontologie als auch seiner Philosophie des Geistes. Dank dem Einsatz formaler Instrumente der zeitgenössischen analytischen Philosophie und der formalen Logik ist es möglich, dem Leser einen Einblick in das logische Universum von Bolzano zu verschaffen. Nicht zuletzt liefere ich mit einem Vergleich des böhmischen Leibniz – wie Bolzano auch genannt wurde – zu G.W. Leibniz und E. Husserl ein erhellendes Bild von Bolzanos Stellung in der Philosophiegeschichte.
Kalküle der zeitlichen Logik sind in der modernen Informatik weit verbreitet. Die zeitliche Organisation von Informationsflüssen in den verschiedenen Architekturen von Laptops, dem Internet oder Supercomputern wäre ohne geeignete Zeitkalküle nicht möglich. Im Zeitalter der Digitalisierung und der Hightech-Anwendungen ist man sich oft nicht bewusst, dass die zeitliche Logik tief in der Philosophie der Modalitäten verwurzelt ist. Ein tiefes Verständnis dieser Wurzeln eröffnet den Weg zu den modernen Kalkülen der temporalen Logik, die durch die Erweiterung der Modallogik mit temporalen Operatoren entstanden sind. Im Juni 2023 ist das von mir und Klaus Mainzer verfasste Buch Temporal Logic. From Philosophy and Proof Theory to Artificial Intelligence and Quantum Computing erschienen.
2. Was sind Ihre Forschungsfelder und was fasziniert Sie an diesen?
Meine Forschungsfelder sind die klassischen und nicht-klassischen Logiken, die Geschichte der Philosophie, die Phänomenologie.
Die Logik ist faszinierend, weil wir sehr viel Inhalt in kurzen Formeln wiedergeben können.
Das gilt nicht nur für die Logik, sondern auch für die Physik, für die Chemie, für die Biologie. Wenn wir versuchen zu erklären, wie die Dinge sich verhalten, suchen wir meistens nach einem Gesetz.
Die Geschichte der Philosophie zeigt uns, dass mehrere Probleme, mit denen wir uns heute auseinandersetzen, in verschiedenen Formen schon aufgetreten sind. Meist hilft uns die Vergangenheit, Lösungen zu finden. Abgesehen davon ist die Geschichte der Philosophie einfach schön.
Phänomenologie und Konstruktivismus gehen nach meinem Dafürhalten zusammen. Die Phänomenologie ist der Versuch zu erklären, wie ist es, dass wir erkennen. Erkennen bedeutet nicht nur, dass etwas unsere Sinnesorgane erreicht, sondern dass wir diese „sense-data“, das, was wir „Wirklichkeit“ nennen, strukturieren. Die „sense-data“ werden unmittelbar in der Raum-Zeit organisiert. Aber wenn wir dann fragen, was Raum-Zeit ist, sehen wir, dass es nicht so einfach ist, auf diese Frage zu antworten.
3. Was sind die aktuell wichtigen Themenbereiche in Ihrer Forschung? Wie haben sich diese in den letzten Jahren verändert und haben Sie eine Idee, wie sich diese in den nächsten zwei Jahren verändern werden?
Im Moment sind aktuelle Themenbereiche in meiner Forschung diejenigen, worüber ich auch unterrichte. Forschung und Lehre sind bei mir stets eng verbunden. Berechenbarkeit und Gödels Theoreme sind ein Thema, das mir sehr am Herzen liegt. Man versucht, offene Fragen der Berechenbarkeitstheorie zu beantworten. Dieses Thema verändert sich ständig. Das berücksichtige ich in meinem anderen Seminar Philosophy of Artificial Intelligence, ein ab diesem Semester on-going Seminar über Grundlagenforschung in der künstlichen Intelligenz, das im Wahlbereich des von Professor Enkelejda Kasneci und Professor Gjergji Kasneci initiierten neuen Studiengangs „AI in Society“ aufgelistet ist.
Wie sich meine Forschung in den nächsten zwei Jahren verändern wird?
Zwei Jahre sind eine zu lange Zeitspanne. Es gibt so viele Dinge, die im Moment passieren, zum Beispiel die Quantenlogik mit unserem IAS Philosopher in Residence und der in spe Kooperation mit dem Quantum Social Lab. Was ich weiß, ist, dass wir in der Januar-Vorlesung (das Seminar „Philosophy of AI“ findet alle vierzehn Tage samstags von 10 bis 17 Uhr statt) über Wittgensteins Sprachspiele im Zusammenhang mit dem Thema der automatischen Übersetzung und Marvel Minski sprechen werden.
4. Wie sind Sie dazu gekommen, Professorin zu werden und warum an der TUM?
Wie Sokrates weiß ich, dass ich nichts weiß, so ist Professor zu sein, eine offene Einstellung zum lebenslangen Lernen.
Professorin an der TUM zu sein, bedeutet, im Zentrum einer äußerst lebendigen Welt zu sein, in der die Philosophin die Idee der Philosophie als Mutter aller Wissenschaften wahrhaftig erleben kann, weil sie in engem Kontakt mit Forschern aller anderen Fachrichtungen steht. Sie trifft z.B. im TUM Think Thank Chemikerinnen und lernt, dass eine Zelle ein Prozess der Selbstorganisation ist. Für die Philosophin ist dies eine sehr wichtige Erkenntnis, weil sie daran gewöhnt ist, auch Individuen als Prozesse der Selbstorganisation zu betrachten. Dann trifft sie Physikerinnen wieder im TUM Think Thank oder am IAS und somit wieder grundlegende Fragen der Philosophie drängen sich auf: Was ist dieses Universum, in dem wir leben? Was ist die richtige Beschreibung der Wirklichkeit auf einer fundamentalen Ebene.
5. Was kann ein Studium heute leisten und warum sollten Menschen bei Ihnen studieren?
Ein Studium, jedes Studium, eröffnet eine andere Perspektive über die Wirklichkeit.
Man kann verschiedene Karten vom gleichen Land haben (topographisch, politisch, …) Es ist dasselbe Land, aber von einer anderen Perspektive. Wir müssen wissen, dass das Studium, das wir auswählen, unsere Perspektive auf die Welt stark beeinflusst.
Warum ausgerechnet bei mir? Ich antworte mit einem Satz aus Theodore Fontanes aus dem Buch „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“: „Das Beste, dem du begegnen wirst, werden die Menschen sein.“
6. Welche drei Tipps können Sie Studierenden geben, um eine erfolgreiche Abschlussarbeit zu schreiben?
1. Sofort mit dem Schreiben beginnen, ohne das fertige Werk im Kopf haben zu wollen. Man muss eine Idee haben, die sich sehr wahrscheinlich durch das Schreiben verändern wird.
2. Ein großes Schema von den verschiedenen Themen herstellen, die behandelt werden müssen. Was will ich sagen? Was brauche ich dazu?
3. Die Fußnoten und die Bibliografie sofort in der endgültigen Form bringen.
Also jedes Mal, dass wir etwas zitieren, sofort Autor, Jahrgang, Seite in der Fußnote und die Quelle sofort in die Bibliografie und in einem einheitlichen Format eintragen.
7. Von wem haben Sie in Ihrem Leben am meisten gelernt?
Von dem Garten meines Großvaters, Stefano. Ich trage seinen Namen (Stefania). Er stand immer vor Sonnenaufgang auf, pflegte den ganzen Tag lang Oliven-, Mandel- und Obstbäume, er war sehr gut im Veredeln, er aß immer nur ein Stück Brot, er war glücklich und hatte unendlich viel Geduld mit Pflanzen und Tieren.
8. Gibt es etwas, was Sie schon immer mal ausprobieren wollten und wozu Sie noch nicht gekommen sind? Wenn ja, woran lag es, dass Sie noch nicht dazu gekommen sind?
Ich würde gerne dynamisches Gruppentraining als Seminar hier an der TUM als Kontextlehre einführen.
Woran lag es, dass ich noch nicht dazu gekommen bin?
Ich sollte vorher die Ausbildung zwei- oder dreimal besuchen. Das ist im Moment nicht möglich, weil die beste Ausbildung dafür, die im Moment in Deutschland angeboten wird, für mich zu teuer ist. Aber es wäre ein enormer Vorteil für die TUM. Viele Studierende im Ingenieurwesen sind sehr auf Ihre Berechnungen konzentriert und es wäre sehr gut, mal in einer anderen Dynamik zu sein, und zu lernen, wie man tatsächlich ist, wie man mit der Gruppe interagiert.
9. Mit welchem Satz würde Ihre Biografie beginnen?
Genau wie Pinocchio anfängt:
Es war einmal ...
»Ein König!« – meinen gleich die klugen kleinen Leser.
Aber diesmal, Kinder, habt ihr weit daneben geraten. – Es war einmal: ein Stück Holz, ja, ein ganz gewöhnlicher Holzscheit!
***
Ein Holzscheit, der sprechen, lachen und weinen kann, sind wir alle am Anfang und bleiben es auch, wenn wir nicht an uns arbeiten, wenn wir uns nicht mit gewissen Dingen auseinandersetzen.
10. Wie könnte Ihr Alltag ohne Arbeit aussehen?
Ich würde reisen und in jedem Land die makrobiotische Gemeinschaft aussuchen. Die Makrobiotik entstand in der Antike und bezeichnet eine Lebensweise. Ich würde zwei oder drei Monate bleiben und Kochkurse besuchen, dann würde ich weiterziehen. Es gibt mehrere Schulen der Makrobiotik in Italien, in Deutschland, in Frankreich, in Österreich, in den USA, auf Cuba. …. Hm … nur in München nicht …
11. Wie verbringen Sie Ihre Wochenenden?
Meistens bereite ich die Sitzungen vor. Die Lehre ist mir sehr wichtig. Ich bereite für jede Sitzung das Skript, die Videos mit Camtasia, aber bald vielleicht mit Synthesia und die Sitzung in Präsenz vor.
12. Gibt es heutzutage Unterschiede zwischen dem Unileben in Italien und Deutschland und wenn ja, welche?
Es gibt mehrere Unterschiede zwischen dem Unileben in Italien und Deutschland.
In Italien gibt es keine Nebenfächer. Das ist ein enormer Nachteil.
In den Geisteswissenschaften werden in Italien fast ausschließlich mündliche Prüfungen abgenommen, was nicht gut ist, weil die Studierende verlernen, wie man einen ausgefertigten Text schreibt.
13. Gibt es einen Gegenstand, den Sie in Ihrem Leben nicht missen möchten? Wenn ja, welchen und warum?
Audible. Ich höre gerne Hörbücher.
14. Was ist Ihr Lieblingsbuch und warum können Sie es empfehlen?
Oliver Sacks.: „Der Mann, der seine Frau mit einem Hut verwechselte“
Es ist interessant zu sehen, dass einige Menschen die Fähigkeit zu »abstrakten« und »propositionalen« Gedanken verlieren, während andere wie Computer arbeiten. Gleichgültig wie ein Computer stehen sie der visuellen Welt gegenüber, und wie Computer analysieren sie, indem sie sich an charakteristische Merkmale und schematische Beziehungen halten. Sie erkennen schematische Strukturen. Einige von uns sehen nur die Emotionen, können aber nicht abstrahieren, andere denken nur seriell, ihnen fehlt jedoch der Überblick.
Mit anderen Worten, das, was wir als objektive Realität bezeichnen, ist oft eine Wirklichkeitskonstruktion. Wir strukturieren das, was wir sehen, fühlen, berühren auf der Grundlage unserer vergangenen Erfahrungen und einer Unzahl anderer Faktoren... Nationalität, Religion, Zugehörigkeit zu einer Gruppe …
Sieht derjenige, der nicht abstrahieren kann und derjenige, der nur abstrahieren kann, die gleiche Welt, die gleiche objektive Realität?
Was sagen uns die Parallelwelten, die den Märchen entspringen, oder das, was wir Geisteskrankheiten nennen, darüber?