
Prof. Dr. Tina Seidel
Friedl Schöller-Stiftungslehrstuhl für Pädagogische Psychologie
Department of Educational Sciences
Facts:
- Lieblingsbuch: Echtzeitalter von Tonio Schachinger
- wichtiger Gegenstand: Mein Strickzeug; meine Laufschuhe; das Buch, das ich gerade lese.
- seit Oktober 2010 an der TUM
Interview
1. Wer sind Sie und was machen Sie an der SOT?
Mein Name ist Tina Seidel. Ich leite an der TUM den Lehrstuhl für Pädagogische Psychologie.
2. Was sind Ihre Forschungsfelder und was fasziniert Sie an diesen?
Ich bin Bildungsforscherin und untersuche, wie man guten Unterricht machen kann. Mich interessiert dabei vor allem die visuelle Expertise von Lehrpersonen. Also die Fähigkeit, wie man hochkomplexe Interaktionen in einem Klassenzimmer visuell verarbeitet und dabei professionell handelt.
3. Was sind die aktuell wichtigen Themenbereiche in Ihrer Forschung? Wie haben sich diese in den letzten Jahren verändert und haben Sie eine Idee, wie sich diese in den nächsten zwei Jahren verändern werden?
Erstens gibt es in meinem Forschungsbereich gerade rasante KI-basierte Veränderungen in den Methoden und Datenanalysen. Wir können nun die sehr komplexen menschlichen Lernprozesse viel genauer messen, z.B. über Blickbewegungen, physiologische Datenmessungen, Messungen von fortlaufenden Lernaktivitäten. Dadurch besteht erstmalig die Chance, anregende und wirklich individualisierte Lernumgebungen zu programmieren. Beispielsweise können wir nun auch bereits im Lehramtsstudium viele digitale Tools einsetzen, z.B. Simulationen und VR-Umgebungen, damit Studierende früh theoretisch Erlerntes in der Praxis üben können. So kann man ein wirklich attraktives und modernes Studium im Lehramt anbieten.
Ein zweites Themenfeld ist die Förderung individueller Potentiale bei jungen Heranwachsenden. Mich besorgen die aktuellen Bildungsverluste, die beim gleichzeitigen demographischen Rückgang unserer Bevölkerung für die gesellschaftliche Entwicklung sehr problematisch sind. Wir brauchen hier in Deutschland ein neues Mind-Set, bei dem die positive Haltung in der Förderung jedes einzelnen jungen Heranwachsenden im Vordergrund steht. Wir dürfen niemandem mehr auf dem Bildungsweg verlieren. Unsere Forschung richtet sich deshalb noch stärker darauf aus, wie Lehrpersonen in positiver Weise die individuellen Potentiale ihrer Schülerinnen und Schüler erkennen und diese Vielfalt in positiver Weise nutzen können.
4. Wie sind Sie dazu gekommen, Professorin zu werden und warum an der TUM?
Als Kind in einer Lehrerfamilie hat mich die Komplexität des Lehrberufs schon immer fasziniert. Ich habe mich deshalb dem Studium der Psychologie des Lehrberufs verschrieben anstatt selbst Lehrerin zu werden. Ich möchte für offene Fragen in der Bildung substantielle Antworten geben können, die wissenschaftlich fundiert sind und nicht nur „Bauchgefühl“. Als Professorin fühle ich mich jedes Semester sehr bereichert, mit jungen talentierten Studierenden und Nachwuchswissenschaftler:innen zu arbeiten. An die TUM wechselte ich vor 14 Jahren, weil sie als eine internationale Spitzenuniversität bereit ist, die Lehrkräftebildung und Bildungsforschung zu fördern. Es ist hier möglich, nicht nur sehr gut zu forschen, sondern gleichzeitig auch exzellente Lehrerbildung zu betreiben. Der Pioniergeist an der TUM kommt meinem eigenen Naturell dabei sehr gut entgegen.
5. Was kann ein Studium heute leisten und warum sollten Menschen bei Ihnen studieren?
Ich habe mein eigenes Studium vor 30 Jahren als geistige Befreiung erlebt. Ich denke, das sollte ein Studium auch heute noch leisten: Kritisches Denken fördern; nicht nur problematisieren, sondern Herausforderungen problemlösend gestalten; mit anderen Studierenden kommunizieren und im Team lernen; technologische Entwicklungen freudig mit einbeziehen und kritisch reflektieren. Und vor allem: trotz vieler Mühe und manchmal auch hartem Lernen Erfolge sehen und Freude an der Erweiterung des eigenen geistigen Horizonts haben.
6. Von wem haben Sie in Ihrem Leben am meisten gelernt?
Ich habe von so vielen Menschen gelernt, dass ich hier keine einzelne Person hervorheben kann. Sicher von meinen Eltern, meinen Geschwistern, meinem Ehemann und meinen Kindern; aber auch von vielen Mitstudierenden, Kolleginnen und Kollegen, meinen beruflichen Mentorinnen und Mentoren. Viele von Ihnen sind über die Jahre sehr enge Freunde geworden. Ich glaube es geht viel darum, im Leben offen zu bleiben für eine kritische Selbstbeobachtung und Veränderungsbereitschaft. Dazu sind der offene Blick und das Lernen von anderen, aber auch das kritische Feedback aus der sozialen Umwelt extrem hilfreich.
7. Gibt es etwas, was Sie schon immer mal ausprobieren wollten und wozu Sie noch nicht gekommen sind? Wenn ja, woran lag es, dass Sie noch nicht dazu gekommen sind?
Ich wollte schon immer die italienische Sprache lernen. Dazu bin ich noch nicht gekommen, werde ich mir aber beizeiten noch vornehmen :)
8. Mit welchem Satz würde Ihre Biografie beginnen?
„Da habe ich mir überlegt …
9. Wie könnte Ihr Alltag ohne Arbeit aussehen?
Ganz wunderbar: morgens in der Isar schwimmen, in Ruhe frühstücken, Sport machen, Freunde treffen, ein Buch schreiben, auf dem Markt einkaufen, kochen, mit meiner Familie zusammen sein.
10. Gibt es einen Gegenstand, den Sie in Ihrem Leben nicht missen möchten? Wenn ja, welchen und warum?
Drei Dinge: Mein Strickzeug; meine Laufschuhe; das Buch, das ich gerade lese
11. Was ist Ihr Lieblingsbuch und warum können Sie es empfehlen?
Ich habe kein einzelnes Lieblingsbuch. Ich lese immer und verschiedene Bücher begleiten mich im Lauf eines Jahres. Deshalb vier Lieblingsbücher aus 2023: Echtzeitalter von Tonio Schachinger, Hello Beautiful von Ann Napolitano, Junger Mann von Wolf Haas, Melody von Martin Suter.