Prof. Dr. Andreas Obersteiner
Heinz Nixdorf-Stiftungslehrstuhl für Didaktik der Mathematik
Department of Educational Sciences
Facts:
- Lieblingsbuch: Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse
- wichtiger Gegenstand: Der Denker von Auguste Rodin
- seit April 2021 an der TUM
Interview
1. Wer sind Sie und was machen Sie an der SOT?
Ich bin Professor für Didaktik der Mathematik, das heißt ich forsche und lehre zur Frage, wie Lernen und Lehren von Mathematik funktionieren kann. Seit 2021 leite ich den Heinz Nixdorf-Stiftungslehrstuhl für Didaktik der Mathematik an der SOT.
2. Was sind Ihre Forschungsfelder und was fasziniert Sie an diesen?
Ein Schwerpunkt meiner Arbeit sind mathematische Denk- und Lernprozesse. Einerseits geht es darum, das Denken und Lernen von Schülerinnen und Schülern besser zu verstehen. Was geht in ihrem Kopf vor, wenn sie sich mit Mathematik beschäftigen? Welche Bilder entstehen dort, und wie können wir den Aufbau nützlicher mentaler Vorstellungen unterstützen? Wir wissen darüber noch zu wenig. Solche Fragen sind für die Mathematikdidaktik relevant, werden aber auch in der kognitiven Psychologie untersucht. Deshalb ist meine Arbeit häufig interdisziplinär ausgerichtet.
Andererseits beschäftige ich mich auch mit Denkprozessen von Lehrkräften. Welches Wissen benötigen sie, um ihre Schülerinnen und Schüler beim Lernen bestmöglich unterstützen zu können?
Eine Herausforderung bei der Untersuchung solcher Fragen besteht darin, dass man Denkprozesse nicht direkt beobachten kann. Deshalb nutzen wir unter anderem Methoden wie Eyetracking, um anhand von Blickbewegungen auf Denkprozesse zu schließen.
3. Was sind die aktuell wichtigen Themenbereiche in Ihrer Forschung? Wie haben sich diese in den letzten Jahren verändert und haben Sie eine Idee, wie sich diese in den nächsten zwei Jahren verändern werden?
Ein konkretes Thema ist aktuell das Lernen von Bruchzahlen, also Zahlen wie drei Viertel (3/4) oder fünf Siebtel (5/7). Wir wissen, dass sich Schülerinnen und Schüler, aber auch viele Erwachsene, mit Bruchzahlen schwertun. Gleichzeitig wissen wir, dass sie eine Schlüsselstelle für das weitere mathematische Lernen sind. Die kognitive Perspektive hat in den letzten Jahren viel dazu beigetragen, dass wir die Schwierigkeiten besser verstehen. Nun geht es darum, Förderkonzepte weiterzuentwickeln. Diese sollten möglichst individuell auf Lernende zugeschnitten sein, weil die jeweiligen Probleme oft sehr unterschiedlich sind. Das heißt, es reicht nicht zu prüfen, ob jemand eine Aufgabe richtig oder falsch beantwortet, sondern man sollte anhand der Bearbeitung beurteilen können, wo das Problem liegt, schnelle Rückmeldung geben und idealerweise individuell unterstützen. Eine solche individuelle Unterstützung kann eine Lehrkraft im Unterricht mit vielen Schülerinnen und Schülern kaum leisten. Digitale Tools können hier eine sinnvolle Ergänzung sein. Sie haben sich in den vergangenen Jahren rasant verbessert und werden in den kommenden Jahren weiterhin neue Möglichkeiten eröffnen.
4. Wie sind Sie dazu gekommen, Professor zu werden und warum an der TUM?
Ich habe Lehramt für Gymnasien studiert, weil ich Lehrer für Mathematik und Sport werden wollte. Im Mathematikunterricht habe ich mir oft die Frage gestellt, was wohl in den Köpfen der Schülerinnen und Schüler gerade passiert. Die Möglichkeit, an einem Forschungsprojekt zu diesem Thema mitzuarbeiten, hat mich dann wieder an die Hochschule gebracht. Als Professor kann ich nun beides verbinden, Forschung und Lehre, das ist für mich die ideale Kombination. Die TUM bietet dafür hervorragende Rahmenbedingungen.
5. Was kann ein Studium heute leisten und warum sollten Menschen bei Ihnen studieren?
Neben der Berufsvorbereitung bietet ein Studium die Möglichkeit, sich intensiv und losgelöst vom Handlungsdruck mit einer Thematik auseinanderzusetzen. Diese Möglichkeit hat man später im Berufsalltag oft nicht mehr. Wir bilden an der TUM angehende Lehrkräfte aus und stützen uns dabei auf wissenschaftliche Erkenntnisse. Es gibt viele Meinungen dazu, was und wie Schülerinnen und Schüler lernen sollten, mittlerweile aber auch viele empirisch fundierte Erkenntnisse. Vor dem Hintergrund wissenschaftlicher Erkenntnisse einen eigenen Standpunkt zu entwickeln, das ist meiner Ansicht nach der Kern des Studiums.
6. Von wem haben Sie in Ihrem Leben am meisten gelernt?
Ich könnte nicht die eine Person nennen. Ich durfte viele interessante und hochkompetente Menschen sehr gut kennenlernen, die mich geprägt haben und von denen ich viel lernen konnte. Das waren führende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, Mentoren, Kolleginnen und Kollegen, aber auch Menschen im privaten Umfeld.
7. Gibt es etwas, was Sie schon immer mal ausprobieren wollten und wozu Sie noch nicht gekommen sind? Wenn ja, woran lag es, dass Sie noch nicht dazu gekommen sind?
Da gibt es viel: Ein Buch schreiben, Gitarre spielen, einen Film drehen. Dafür fehlen Zeit und Muße.
8. Mit welchem Satz würde Ihre Biografie beginnen?
Mit einem Hinweis, dass man eine Biografie nicht vom Ende her bewerten sollte. Rückblickend ist es leicht, Zusammenhänge zu konstruieren.
9. Wie könnte Ihr Alltag ohne Arbeit aussehen?
Das geht gut, auch wenn ich meine Arbeit nicht als Pflicht empfinde. Mit Zeit für die Familie, mit Schwimmen, Joggen, gutem Essen, Lesen, Klavierspielen oder Freunde treffen kann man die Tage auch gut füllen.
10. Wie verbringen Sie Ihre Wochenenden?
Mit meiner Familie. Und manchmal auch mit Arbeit…
11. Warum haben Sie dafür sich entschieden in die Forschung zu gehen und nicht in den Schuldienst?
Mir haben das Studium des Lehramts und auch das Referendariat viel Spaß gemacht. Aber dann hat mich fasziniert, dass ich mich als Wissenschaftler mit noch unbeantworteten Fragen beschäftigen kann. Unterrichten darf ich ja auch als Professor. Und ich bin im engen Austausch mit unseren Partnerschulen, so dass mir der Alltag an den Schulen nicht fremd geworden ist.
12. Gibt es einen Gegenstand, den Sie in Ihrem Leben nicht missen möchten? Wenn ja, welchen und warum?
Der Denker von Auguste Rodin steht als Holzfigur auf meinem Schreibtisch. Ich habe mehrere Versionen aus unterschiedlichen Materialien davon, gesammelt aus ganz unterschiedlichen Orten der Erde. Die Figur fasziniert mich, weil sie das Denken darstellt. Wir Menschen können dasitzen und mit diesem unergründlichen Organ in unserem Kopf (also dem Gehirn) Probleme lösen. Das ist doch faszinierend!
13. Was ist Ihr Lieblingsbuch und warum können Sie es empfehlen?
Das Glasperlenspiel von Hermann Hesse. Es enthält eine interessante Vision der akademischen Welt in der Zukunft. Ich möchte noch ein zweites Buch nennen, das für mich eine Einstiegslektüre in meine wissenschaftliche Arbeit war: Der Zahlensinn von Stanislas Dehaene. Es beschäftigt sich mit der Frage, wie unser Gehirn mit Zahlen umgehen und rechnen kann. Das Buch basiert auf Forschung, ist aber auch für Laien gut verständlich beschrieben und deshalb empfehlenswert.