
Prof. Dr. Hagen Schölzel
Professur für Politische Philosophie und Theorie
Department of Governance
Facts:
- Lieblingsbuch: „Der Boxer“, „Das schwarze Königreich“ und „Kälte“ von Szczepan Twardoch
- wichtiger Gegenstand: kleine Geschenke meiner Kinder
- seit Oktober 2024 an der TUM
Interview
1. Wer sind Sie und was machen Sie an der SOT?
Mein Name ist Hagen Schölzel und ich vertrete seit Oktober 2024 die Professur für Politische Philosophie und Theorie am Department of Governance.
2. Was sind Ihre Forschungsfelder und was fasziniert Sie an diesen?
Ich arbeite hauptsächlich an der Schnittstelle von Politischer Theorie und Science and Technology Studies. Dabei interessiere ich mich vor allem für Wissensformen und Praktiken der Politik und wie sich unser Wissen und unsere Praktiken verändern angesichts technischer Entwicklungen, ökologischer Krisen und auch kultureller Innovationen. Mich faszinieren die begrifflichen Grundlagen unserer kollektiven Selbstverständnisse. Eine Reihe wissenschaftliche Erkenntnisse, technische Entwicklungen und ökologische Krisen haben etablierten Weltverständnisse in den letzten Jahrzehnten herausgefordert, weil die Muster, wie wir unsere Welt gedanklich sortieren, häufig nicht mehr richtig unseren Erfahrungen entsprechen und weil eingeschliffene Denkweisen Teil der gegenwärtigen Problemlagen sind. Auch in der Politikwissenschaft sollten deshalb unsere etablierten Begriffe und Theorien hinterfragen und möglicherweise überarbeiten, wenn wir aus den gegenwärtigen Krisen herauskommen wollen. Hier versuche ich einen Beitrag zu leisten.
3. Was sind die aktuell wichtigen Themenbereiche in Ihrer Forschung? Wie haben sich diese in den letzten Jahren verändert und haben Sie eine Idee, wie sich diese in den nächsten zwei Jahren verändern werden?
Darf ich hier Werbung für ein Buch machen? Es heißt „Demokratische Auszeit. Corona-Politik jenseits von Ausnahmezustand und demokratischer Routine“, und ich habe es gemeinsam mit André Brodocz geschrieben, der Professor für Politische Theorie an der Universität Erfurt ist. Unsere Überlegungen gehen von der Erfahrung der Pandemie aus, in der das Konzept des politischen „Ausnahmezustands“ oder „Notstands“ in öffentlichen und wissenschaftlichen Kontroversen wieder hervorgeholt wurde. Das Konzept ist mit der Perspektive effektiven Regieren in Notfällen aber auch mit der Gefahr einer autoritären Herrschaft verbunden. Wir haben nach einer begrifflichen Alternative gesucht und in unserem Buch das Konzept einer „demokratischen Auszeit“ skizziert. Damit bezeichnen wir eine Vorstellung von Krisenpolitik, die Sachfragen nur für kurze Zeit und unzulänglich entscheiden kann, wodurch die grundsätzliche Frage nach der gemeinsamen Ausgestaltung von Freiheit und Gleichheit in der Demokratie immer wieder neu aufgeworfen wird. In einer demokratischen Auszeit müsste eine Gesellschaft ein drängendes Sachproblem nach und nach bearbeiten und sich gleichzeitig über ihr demokratisches Selbstverständnis neu aufklären.
Anschließend daran interessieren mich zunehmend die Zusammenhänge von populistischer Politik mit Technik, Ökologie und Wissenschaft. Nicht nur in der Pandemie spielten digitale Medien oder Anfeindungen gegenüber Wissenschafterinnen und Wissenschaftler für populistische Politik eine Rolle, sondern zum Beispiel auch im Kontext der Klimapolitik. Das besser zu verstehen, wird mich voraussichtlich in nächster Zeit beschäftigen.
4. Wie sind Sie dazu gekommen, Professorin zu werden und warum an der TUM?
Ich bin gefragt worden, ob ich die Vertretungsprofessur übernehmen möchte, und habe mich dann ein bisschen aus den Bauch heraus dafür entschieden. Das hatte sicherlich auch etwas mit der TUM zu tun bzw. mit meinem konkreten Umfeld an der Hochschule für Politik, das ich als ein sehr inspirierendes und angenehmes empfinde.
5. Was kann ein Studium heute leisten und warum sollten Menschen bei Ihnen studieren?
Ich habe den Eindruck, dass Bildung heute viel umstrittener ist und und ein Studium viel ambivalenter bewertet wird, als noch vor wenigen Jahren. Es gab lange einen weitgehenden Konsens darüber, dass wir uns auf dem Weg in eine Wissensgesellschaft befinden und dass Bildung ein Versprechen auf ein besseres Leben und gesellschaftliche Anerkennung beinhaltet. Dagegen kann heute jemand wie J.D. Vance, der aktuelle Kandidat der Republikaner für die amerikanische Vizepräsidentschaft, unverhohlen verkünden „The Professors are the Enemies“, es werden sogenannte „alternative Fakten“ verbreitet, die Fantasiegebilde oder sogar offensichtliche Lügen sind, und teilweise werden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler offen angegriffen. Das ist eine gefährliche Entwicklung, der wir im Studium etwas entgegen setzen sollten.
Die politische Theorie und Ideengeschichte kann hier zeigen, dass solche Entwicklungen nicht ganz neu sind. Zum Beispiel schrieb bereits vor 70 Jahren Hannah Arendt, eine wichtige politische Philosophin, in ihrem Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ über das Lügen als politische Propaganda-Strategie. Es dient nicht dazu, dass die Leute die unwahren Erzählungen glauben, sondern es soll das Vertrauen in valides Wissen und die darauf aufbauenden Institutionen und Zukunftsperspektiven zerstören. Wenn man „nicht so genau wissen“ kann, was richtig und was falsch oder was gut und was schlecht ist, erscheinen autoritäre Führungspersonen attraktiv, die eine angeblich früher vorhandene „gute Ordnung“ wieder errichten wollen. „Make America Great Again“ ist nur eines der Trugbilder, die so erzeugt werden.
6. Von wem haben Sie in Ihrem Leben am meisten gelernt?
Es gibt nicht die eine Person, die ich besonders hervorheben kann. Wenn ich nicht einfach „das Leben“ oder „das Lesen“ nennen könnte, sondern konkrete Menschen, würden mir zuerst meine beiden Großmütter, meine Eltern und meine Partnerin einfallen.
7. Gibt es etwas, was Sie schon immer mal ausprobieren wollten und wozu Sie noch nicht gekommen sind? Wenn ja, woran lag es, dass Sie noch nicht dazu gekommen sind?
Es gibt eine Menge Dinge, die ich interessant finde und einmal ausprobieren würde, aber nichts, was ich wirklich vermisse. Ich lasse Neues gern auf mich zukommen und versuche dann, sich bietende Gelegenheiten zu ergreifen. Sich überraschen zu lassen, ist vielleicht das Beste am Ausprobieren.
8. Mit welchem Satz würde Ihre Biografie beginnen?
„Ich bin ein Kind der späten DDR und des ‚wilden Ostens‘ der 1990er Jahre…“
9. Wie könnte Ihr Alltag ohne Arbeit aussehen?
Mehr draußen, weniger drinnen, mehr Bewegung, weniger Sitzen – ungefähr so würde es wohl sein. Andererseits fand ich an der Wissenschaft als Beruf immer die Perspektive attraktiv, dass die Arbeit nicht notwendiger Weise ein abruptes Ende haben wird. Ich kann ja auch als Rentner weiter lesen und schreiben!
10. Gibt es einen Gegenstand, den Sie in Ihrem Leben nicht missen möchten? Wenn ja, welchen und warum?
Mir fallen ganz verschiedene ein: Zum Beispiel liegt auf meinem Schreibtisch gerade ein Zauberwürfel, und in meinen Hosentaschen sammeln sich immer wieder einmal kleine auffällige Steine an. Die Gegenstände selbst sind aber gar nicht so wichtig, und irgendwann verschwinden sie auch wieder. Nur die Verbindung, die sie herstellen, möchte ich nicht missen, denn es sind Dinge, die ich von meinen Kindern bekomme.
11. Was ist Ihr Lieblingsbuch und warum können Sie es empfehlen?
Ich habe im letzten Jahr drei Bücher von Szczepan Twardoch gelesen, die ich alle sehr gut geschrieben fand und mit großer Spannung gelesen habe: „Der Boxer“, „Das schwarze Königreich“ und zuletzt „Kälte“. Das erste spielt im Warschau der 1920er Jahre, das zweite im Warschauer Ghetto während der deutschen Besatzung und das dritte an verschiedenen Orten der Sowjetunion ungefähr zwischen der Oktoberrevolution und der Zeit nach dem 2. Weltkrieg. In allen dreien ist Gewalt bzw. Gewaltherrschaft und was sie mit Menschen macht ein zentraler Gegenstand. Ich habe den Eindruck, dass das ein Schlüsselthema ist, um das mittlere und östliche Europa besser zu verstehen. Übrigens inklusive der ehemaligen DDR, über deren Gewaltgeschichte meines Erachtens viel zu wenig gesprochen wird.